Faust, der Ketzer und freie Geist
Ein Aspekt wurde bisher kaum
erforscht. Prof. Worthy führt aus: „Das von Martin Luther ausgelöste
... Schisma [Kirchen - spaltung] beherrschte immer noch das Denken jener
Zeit. Die Reformer standen nicht mehr nur im Widerspruch zu Rom sondern
oft auch in doktrinärem Zank miteinander. Die ganze Welt dachte
damals in konfessionellen Kategorien, und mit Recht, da die Doktrin sowohl
im privaten Leben wie auch in der Politik und sogar in geschäftlichen
Angelegenheiten das führende Prinzip bildete. Der unbekannte Faustbuch-
Autor brauchte kein Geistlicher, oder frommer Christ zu sein, um mit konfessionellen
Argumenten vertraut zu sein. Worthy argumentiert:
„Ein sogar sehr berühmtes,
dem Jahrhundert Dr. Luthers auch wohlbekanntes historisches Vorbild für
Faustus hat es wirklich gegeben. Zwar hatte er mehr als ein Jahrtausend
vorher gelebt, aber der berüchtigte nordafrikanische Ketzer Faustus
war für Luther darum besonders wichtig, weil er eine Hauptrolle in
der Entwicklung des (von Luther selber sogenannten) Evangeliums der Gnade
gespielt hatte. Luther schätzte die Schriften von Augustinus, dem
Schutzheiligen seines Ordens, über alle Maßen hoch ein. Augustinus
gehörte zu den Begründern der katholischen Glaubenslehre, welche
bestrebt waren, die Orthodoxie (= rechte Lehre) eindeutig gegen ketzerische
Anfälle abzugrenzen. ... unter den Hauptgegnern des Augustinus war
der sehr begabte Bischof einer christlichen Sekte, der Augustinus selber
früher angehört hatte.“ Gegen ihn schrieb Augustin ausführlich
und scharf die Traktate Contra Faustum.
Der nordafrikanische Faustus
gehörte zu den Manichäern, einer Sekte, welche ihre Glaubensartikel
auf der Vernunft zu basieren behauptete. Sie waren geschickte Astronomen,
gerühmt für treffende Kalkulationen zu den Bewegungen himmlischer
Körper. Faustus war bekannt für seine Anmaßung, genauestens
das Gute und das Böse gegeneinander abgrenzen zu können, denn
die radikale manichäische Weltteilung zwischen Licht und Dunkel war
für die Sekte charakteristisch.
Augustinus veröffentlichte
die von Faustus vertretenen Thesen, um sie auf diese Weise mit der eigenen
katholischen Auffassung zu konfrontieren. In diesen schriftlichen “Disputationen”
mit Faustus fanden in einer späteren Epoche die Lutheraner solide
Unterstützung für ihr eigenes Bestehen auf die Alles umfassende
und Allem zugleich innewohnende, immerwährende Gnade Gottes, die über
alle Vernunft geht. Sie hielten den ketzerischen Vernunft- Glauben für
eine Eingebung des Teufels..
Diese augustinisch-lutherische
Vorstellung von der allesvereinenden Gnade Gottes erscheint denn auch als
zentrales Problem in dem Faustbuch. Faustus kann es einfach nicht glauben,
dass ihm seine Sündhaftigkeit vergeben werden könne. Immer
wieder betont der Autor, dass diese Sünde mit jener Ursünde identisch
ist, welche das Alte sowie das Neue Testament verbietet, dem überheblichen
Stolz nämlich, die eigenen Verbrechen seien größer als
ein gnädiger Gott zu vergeben vermag. Faustus strebt nach allen
Kräften und sucht mit allen Mitteln - ja er beruft sich sogar auf
die Hilfe seines Teufels - einen Glauben an die Gnade Gottes zu gewinnen.
Mephisto versichert ihm wiederholt, dass er sich gerade durch solche Bestrebung
zur Hölle verdammt. Die besondere Zuspitzung dieses uralten christlichen
Problems gehört zur Zeitgeschichte des ausgehenden 16. Jahrhunderts.“
Worthy beschließt seine Ausführungen mit dem Fazit „Sollten wir das Faustbuch im Sinne jener Auseinandersetzung lesen, so könnte Fausts eigenmächtiges Streben nach der göttlichen Gnade jene ketzerische Hoffnung [verkörpern], durch eigene Kräfte könne der Mensch die Erbsünde abschütteln und zur sittlichen Freiheit und Verantwortlichkeit gelangen.“
Um dem noch einen Gedanken
anzufügen, dies würde die Ambivalenz erklären, dass Faust
sich einmal in das bunte Wirtshaus- und Lotterleben stürzt, dann wieder
in geradezu abgründige seelische Krisen gerät und bereut. Auch
Marlowe reitet auf diesem Punkt geradezu herum. Marlowe selbst war in dieser
Hinsicht keineswegs sensibel, sein Lebensstil war chaotisch: Bummelstudent,
Bühnenautor, Geheimagent der englischen Krone, der damals verabscheuten
Homophilie und jedem neuen Laster zu getan.
Sehen wir die Parallelen
zu Faust? Ich stelle mir vor, dass auch Marlowe gelegentlich - wie der
Held seines Dramas - unter Tränen der Reue nach Erlösung schrie.
Eine Kirche, welche diese Menschen nicht mehr erreichen kann, sondern sie
sogar verdammt, trägt sicher daran eine Mitschuld, wenn diese sich
für immer abwenden und in Pakt und Fluch und vermeintliche Verdammnis
verstricken.
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