dieser Artikel von Goedart Palm, geschrieben am 14.08.2010, bei Heise     http://www.heise.de/tp/artikel/32/32983/1.html      ist gespiegelt und leicht gekürzt / bearbeitet
 
Teil II : Von der Existenz zur Multi-Existenz

Andrej Linde und Alexander Vilenkin haben seit Alan H. Guths Paradigmenwechsel in den 1980er Jahren mit im Einzelnen erheblichen Theoriefortschritten das "inflationäre Universum" vorgestellt, um die im kosmologischen Standardmodell auftretenden Konsistenzprobleme zu lösen und auch die Situation vor dem Urknall zu fokussieren.

Dieses in der Binnenansicht unendliche Universum ist ein Ewigkeits-Szenario: Es gibt laufend neu entstehende und ältere Gebiete in diesem inflationär expandierenden Ozean, die diesen Prozess bereits wie unsere Universum durchlaufen haben. Solche "Insel-Universen" eröffnen wegen der Begrenzung der Variierbarkeit der Elementarteilchen eine endliche Zahl von Geschichten, die an unendlich vielen Orten spielen. Tobias Hürter und Max Rauner haben das illustrative Beispiel eines Zuschauers gewählt, der auf seinem Fernseher durch unendlich viele Programme zappen kann, aber wegen der endlichen Zahl von Bildpunkten des Monitors unweigerlich auf Programmwiederholungen stößt. 
Das Multiversum findet in exakten Kopien unserer Welt und völlig anderen Versionen statt. Es mag noch harmlos sein, wenn nun der Bundesliga-Champion zum Absteiger wird, aber was ist mit einer Welt, die von dir Leser in einer grausamen Diktatur beherrscht wird?

Alex Vilenkin deprimiert der Verlust einer weiteren menschlichen Zentralperspektive im inflationären Multiversum, wenn zahllose kosmische Doppelgänger von uns just gerade dasselbe tun wie wir. Nach Max Tegmark findet sich im schwer oder gar nicht zu überwindenden Abstand von 10 hoch 10 hoch 29 Metern ein Autor, der just diesen Artikel oder aber einen besseren schreibt. Einzigartigkeit wird im Multiversum nicht mehr gewährt.

.
vergleichbare imaginäre "Welten" im 19. Jh. L.Caroll´s  Alice

Doch der Zugewinn an Weltentwürfen und die dem zugeordnete Seinsweisen bietet auch bedingten Trost gegenüber dem Verlust narzisstischer Selbstgewissheit: Einige unserer Multiversums-Zwillinge haben das günstigere Schicksals-Los gezogen, weil ihre Welten besser sind als unsere. Leibniz, der Philosoph der besten aller möglichen Welten, wird nun endgültig auf das Altenteil seines kleinräumigen Monaden-Universums beschieden. Gott war erheblich erfindungsreicher, als es uns die barocke Physik mit ihren Harmonisierungszwängen zwischen Theologie und Physik bei wissenschaftlich schlechteren "Sichtverhältnissen" als den gegenwärtigen erklärt. Oder können wir den lieben Gott als "transzendenten Koordinator" (Bernulf Kanitscheider) ganz verabschieden, wenn an Stelle von metaphysischen nun eine Unzahl von physikalischen Welten mit unterschiedlichsten Eigenschaften rücken?

Der von einer Vatikan-Kommission 2004 mit der "Genesis" für kompatibel erklärte "Urknall" löste jedenfalls nie die Philosophen seit Anbeginn quälende alte Frage, warum etwas ist und nicht nichts. In inflationärer Perspektive wird indes auch die Entstehung der Welt aus dem Nichts, also die berühmte, für menschliche Anschauung unvorstellbare "creatio ex nihilo" mehr oder minder plausibel erläutert. Inzwischen beansprucht die Kosmologie mit diesen Schwindel erregenden, noch längst nicht überprüfbaren Weltvervielfachungen Zuständigkeiten, die vormals der Theologie, Metaphysik und literarischen Fiktion vorbehalten waren. Physik wird zur Fortführung der Metaphysik mit anderen – besseren – Mitteln, aber dadurch auch zu einem Ort ethischer Meditationen.

weiter zu Teil III:  Multiversale Ethik


zur Startseite der UE:  Universum, Quanten und Schöpfungsbericht