dieser Artikel von Goedart Palm, geschrieben am 14.08.2010, bei Heise     http://www.heise.de/tp/artikel/32/32983/1.html      ist gespiegelt und leicht gekürzt / bearbeitet
 

Teil III:  Multiversale Ethik

Der Philosoph, Moralist und Kosmologe Immanuel Kant war vor allem von zwei Dingen besonders ergriffen: "Der bestirnte Himmel über mir, und das moralische Gesetz in mir." Die Wichtigkeit des Menschen werde in der Unendlichkeit der "Welten über Welten" vernichtet, während die moralische Selbsterfahrung den Menschen unendlich erhöhe.

Kants Versuch, diese beiden Phänomene dialektisch zu verschränken, muss im Multiversum brisanter formuliert werden. Gibt es zahllose Spiegeluniversen, gibt es unzählige Varianten des Seins, dann relativieren sich die schicksalhaften, unabänderlichen Umstände, denen ich in diesem Universum unterworfen bin, so folgenreich wie meine kosmische Winzigkeit. Denn im nächsten, spätestens übernächsten Universum bin ich der König, der Bettler, der Jedermann. Glück und Pech, Freiheit und Fügung werden nicht mehr allein in diesem Universum verrechnet, sondern im multiversalen Maßstab – und damit in der Summe aller möglichen Existenzen letztlich abgeschafft.

Haben wir früher vergeblich gerechnet und gerechtet, ohne die göttliche oder kosmische Gleichung hinter all dem zu erkennen, erscheint die Welt nur noch ungerecht, wenn sie als einzige begriffen wird. Allerdings gibt Alex Vilenkin zu bedenken, dass immer dann, wenn man ein mögliches Unglück denkt, man sicher sein darf, dass es in einigen Regionen des Multiversums auch genau so gekommen ist. Gerechtigkeit verteilt sich nun auf Myriaden von Personen, die ich bin und doch wieder nicht bin. Zugleich wird nämlich auch die Identität zu einem bloß vorläufigen Seinsgefühl, das sich in zahllosen Varianten des Multiversums auflöst.

Hier ist das spätestens seit Ende des 19. Jahrhunderts in Wissenschaft und Literatur fragil definierte Ich endgültig "unrettbar" (Ernst Mach), wenn es Entwürfe gibt, die im Kreis der "hiesigen" Identität bleiben und Neuschöpfungen, die nur noch von ferne an unsere irdische Kondition erinnern. Immerhin brauchen uns von 10500 Universen, die von der Stringtheorie errechnet wurden, ohnehin nur die zu interessieren, die für uns fassbar sind - was das anthropische Prinzip als die Verknüpfung der kosmischen Bauweise mit unseren Beobachtereigenschaften zu neuen Ehren hat kommen lassen. Eine multiversale Ethik heißt nun, über alle moralischen Zustände des anthropisch zugänglichen Multiversums reflektieren und darin einer neuen praktischen Vernunft zu folgen, der eigenen Identitätsversion mit mehr kosmischer Gelassenheit zu begegnen.

Existenzen sind nicht mehr schicksalhaft unwiderruflich, sondern spreizen sich in weltenreiche Möglichkeiten, die hier so und dort anders realisiert sind. Nicht jeder Schritt wäre unausweichlich und irreversibel, wie es der Fatalist meint, der unsere nicht beweisbare, aber hartnäckige Intuition von Willensfreiheit provoziert. Die klassische ethische Position der goldenen Regel bzw. des kategorischen Imperativs (Immanuel Kant) erhält im Multiversum auch eine dynamische Neuformulierung: Handle stets mit der Vorstellung, dass du in einer anderen Welt dein Gegenüber bist.

"Ich" ist also, wie es Arthur Rimbaud und Jacques Lacan poetisch bis psychoanalytisch behaupteten, tatsächlich und leibhaft ein "Anderer". Das schafft allerdings auch moralische Unwägbarkeiten. Könnte ich nicht gleich zum Verbrecher werden, wenn die persönliche Verantwortung im Hier und Jetzt in der Perspektive des Multiversums zum unbeachtlichen Zufall verkommt und "ich" unzählige Seinweisen habe – so wenig sich das personale Seinsgefühl in diesem Universum deshalb auflöst. Doch wer hier rücksichtslos ist, "verwandelt" sich in jenem Multiversum zum Opfer. Reicht diese Überlegung zu unseren vielförmigen Zwillings-Existenzen vielleicht, mit mehr multiversaler Solidarität Menschen und andere Mitgeschöpfe zu behandeln?

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Quelle Telepolis > Magazin http://www.heise.de/tp/artikel/32/32983/1.html

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